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I Pity The Poor Immigrant Across The Borderline

Am 27. 12. 1967 erschien „John Wesley Harding„, Bob Dylans achtes Studioalbum. Es enthält mit „All Along the Watchtower“ einen seiner bekanntesten Songs und gilt im Allgemeinen bis heute als seine merkwürdigste Platte. Die zehn Lieder wurden praktisch mit einer 3-Mannband eingespielt. Den Bass bediente Charles McCoy und am Schlagzeug saß Kenny Buttrey, beide Nashville-Cats, beide auf allen Songs von „Blonde On Blonde“ mit dabei, der im Mai 1966 veröffentlichten Doppel-LP, der Bob Dylans vorübergehendes Verschwinden aus dem Musikgeschäft folgte. Es folgten Gerüchte, er sei tot oder verrückt geworden oder beides oder sei schwer verletzt bei einem Motorradunfall nahe Woodstock bei New York von seiner Frau Sara gefunden und daraufhin in ein Krankenhaus gebracht worden. Bis heute nährt Bob Dylan die Gerüchte selbst, indem er andere über einen längeren Aufenthalt in einer Klinik zur Genesung sprechen lässt und undeutliche Anmerkungen über das tatsächliche Geschehen an diesem 29. Juli 1966 macht.

Zwischen „Blonde On Blonde“ und „John Wesley Harding“ hörte eine sensationsgeile Presse und Öffentlichkeit praktisch so gut wie nichts von ihm und über ihn. Dylans Clan sorgte für hermetische Abriegelung und kein Einziger veplapperte sich mit irgendeiner noch so kleinen Neuigkeit zur Klärung des Sachverhalts. Diffus wie ein Wanderer im dichten Nebel nach dem Weg suchend stocherte jeder in irgendwelchen Hinweisen nach einer Antwort, nach des Rätsels Lösung, die es nicht gab.

Wie um alle noch mehr zu verwirren war „John Wesley Harding“ in jeder Zeile, in jeder Strophe ein Mysterium. Alle Songinterpretationen, die ich gelesen habe, sind gut, aber auch so gut wie nichtssagend.

Für mich liegt die wahre Größe dieser Platte in einem klar stringenten, sehr reduzierten Bandsound, der wohl bis heute tausende Nachahmer im American Musicland gefunden hat. Hier Namen zu nennen erscheint mir unfair denen gegenüber, die man weglassen muss. Jeder Song erzählt eine rätselhafte Geschichte, eine kurze Story, in fast jedem Song erscheinen einzelne Personen, oft mit Namen, wie aus einem fernen Westerncountry across the borderline. Ein Land, das es vielleicht nur in Erzählungen, Mythen, Legenden und Parabeln zu geben scheint. In zahllosen guten Filmen und Büchern.

Aber dieses Land gab und gibt es offensichtlich in Bob Dylans Bewußtsein. Und dieses Land gibt es in all denjenigen Menschen, die ich in meinem Leben getroffen und die ich schätzen und lieben gelernt habe und die mehr wert sind als Geld oder Macht.

Möglicherweise gibt es dieses Land in Western wie „Der Schatz der Sierra Madre“ oder „Red River„.
Auf jeden Fall gibt es das Land in „Pat Garrett & Billy The Kid„, einem der Meisterwerke moderner Kinokunst, natürlich vom großartigen Sam Peckinpah. In den dreieinhalb Jahren, die ich selbst in einem Kino arbeitete, Filme disponierte und vorführte und zusammenklebte und wiederauseinandernahm, die Website schrieb und pflegte und auch noch an der Kasse stand, hab ich keinen Film vorgeführt, der an diesen herankommt, mit Ausnahme von „Die Ermordung des Jesses James durch den Feigling Robert Ford“ von 2007, mit Brad Pitt in der Hauptrolle.
Dylan selbst agiert in „Billy The Kid“ in einer genauso kuriosen wie aufschlussreichen Nebenrolle als intellektueller Druckereihelfer, der auf die Frage: „Wer bist du eigentlich?“ die Antwort „Alias. Alias wer immer du willst.“ gibt.

Den Soundtrack komponierte der Schauspieler selbst und war verärgert, dass Peckinpah ihn an den falschen Stellen einsetzte. „Knockin‘ On Heaven’s Door“ mögen tausende mieser Coverbands vergewaltigen so oft sie wollen, von der Klarheit dieser 2:30 Minuten sind sie soweit entfernt wie der Habicht vom Mond.
The Girl From The Red River Shore„, ein Song von überirdischer Entrücktheit und ein Outtake von „Time Out Of Mind„, später auf den „Bootleg Series Vol. 8 „Tell Tale Signs“ veröffentlicht, erzählt die ganze Geschichte dieses Landes weiter. So wie „Ain’t Talkin‘„, „‚Cross The Green Mountain“ und „Tempest„.

Auf jeden Fall tauchen das Wasteland und all die Badlands und die Geschichten davon wie aus dem Nichts mit einer Heftigkeit auf, die einen sprachlos zurücklässt.
Sie tauchen alle auf in „Idiot Wind„, dem besten Song von „Blood On The Tracks“ vom Januar 1975, in welchem Dylan in scheinbar endlos langen acht Minuten klingt als müsse er gleichzeitig die Welt, seine Ehe, seine Kinder, seine Familie, seine Freunde und wasweißichnoch retten vor Habgier, Neid, Eifersucht und all den anderen Todsünden. Man sieht deutlich wie es nicht nur am Horizont glüht, man riecht verbrannte Erde, ahnt die verlorenen und zerfetzten Träume.
Der Archetyp eines emotionalen Anfalls, umgemünzt in Poesie. Der Vietnamkrieg war zuende und mit ihm die Liebe von Sara. Es gibt von „Idiot Wind“ eine sehr zärtliche, anrührende Version, in New York September 1974 eingespielt, in der man förmlich den Indian Summer spürt, das Lachen seiner Kinder, aber Dylan nahm das Lied und mit ihm 4 oder 5 andere von „Blood On The Tracks“ in Minneapolis in seiner Heimat Minnesota im letzten Moment vor Erscheinen des Albums noch einmal komplett neu auf. Es waren so weit ich jetzt weiss die letzten Dezembertage zwischen Christmas und New Years Day. Es waren der 27.12. und der 30.12. und er arrangierte „Tangled Up In Blue„, einen seiner besten Songs bis zum heutigen Tag sowie die beiden großen South of the Border-Lovesongs des Albums, „You’re A Big Girl Now“ und „If You See Her, Say Hello“ ganz spontan noch einmal völlig anders.

Die größte Wandlung erfuhr allerdings „Idiot Wind„. Er ersetzt schonungslos aufrichtige Sentimentalität mit einem musikalischen Gewittersturm und aus dem lauen, anheimelnden Lüftchen vom September war ein eiskalter Nordwind geworden, der da über die Grenze wehte. Allerdings hat die Version vom September soviel zu bieten, dass man echt ins Grübeln kommt. Wer nur beide Versionen hört und nebeneinander stellt und vergleicht, hat hier die Aufgabe einer Doktorarbeit vor sich. (1)

Bob Dylan hatte plötzlich eine ganz neue Form der Liedkunst gefunden und das erhob ihn auf ein völlig neues Plateau, von wo aus er wie der Reisende in Caspar David Friedrichs Bild „Der Wanderer über dem Nebelmeer“ allerdings keine romantische Landschaft, sondern Mord und Totschlag sah und all dem seine Kraft der Liebe, der Musik, seinen Einfallsreichtum und seine Intelligenz entgegenschleuderte. Und wer bedenkt, dass er das bis heute auf allen Bühnen dieser Welt zuhause jedes Jahr aufs Neue tut, mit seinen 72 Jahren, voller Anmut und wunderschön, der mag doch bitte mal googlen.

Wie um die Ungeheuerlichkeit seiner und ihrer Emotionen, seiner Wut, ihrer Kraft, seiner und ihrer Verletzungen besänftigen zu wollen, stellte Dylan dem nervenaufreibenden Zynismus von „Idiot Wind“ als viertem Song der ersten LP-Seite die aufopferungsvolle Versöhnungsgeste von „Shelter From The Storm“ an gleicher Stelle der zweiten Seite entgegen. Es gibt meiner Meinung nach nicht viele Platten, die so durchdacht sind trotz all dem Schmerz und all der Liebe….
Wobei ich mir nicht sicher bin, was besser ist, Opferbereitschaft oder Zynismus……

Die Lyrics von „Idiot Wind“ sind wie die Orgel, wie jedes Wort, das er ausspuckt als könne er nicht anders – und angesichts dieses verdammten Krieges kann er nicht anders – brennendes Gold. Sie sind das, wovon Rimbaud in seinen Gedichten und seinen Poesie-Theorien gesprochen hat. Nicht umsonst zitiert Dylan ihn im darauffolgenden „You’re Gonna Make Me Lonesome When You Go„, den französischen Vagabond par excellence, universal long before his time….

„Lily, Rosemary And The Jack Of Hearts“ ist pure Freude, ist Sex, ist Liebe und alles was dazu gehört. Der unwichtigste Song des Albums eine lange, lange Westernballade, albern, voller Trunkenheit und „böser“ guter Gedanken: ehedem noch forever young…..“augenzwinkernd“:…. die beiden……, na ja, was sollte ich machen, aber ich bin ja der HERZBUBE, der Song könnte ewig weitergehen…..hier bekennt sich einer offen zum Sex, nicht hinter vorgehaltener Hand, sondern in aller Öffentlichkeit, und erzählt von der Tatsache, dass beide Frauen kein Problem damit hätten……..wobei erotische Anspielungen in Dylans Gesamtwerk so zahlreich sind wie in allen Bluesliedern, wie bei den Rolling Stones, wie überall…..so what? Die Bilder der Songzeilen sind von einmaliger Schönheit. Hier singt einer ein Loblied auf die Frauen.

Sara kam wieder zurück, allerdings: die Liebe war in this case von kurzer Dauer. Was folgte ist bekannt: die beiden musikalisch hochwertigen „Rolling Thunder„-Tourneen vom Herbst/Winter 1975 und Frühjahr 1976, der Film „Hard Rain„, in dem Dylan und Band aussahen wie Sträflinge auf dem Weg zur Hinrichtung ihrer Wärter sowie die Outlaw-sucht-Frau LP „Desire“ von 1976. Eine weitere, wieder völlig neue Version des Landes.
Romance in Durango“ oder „Isis„, um nur zwei der 9 Masterpieces zu nennen: ach je, was für ein Sänger, was für eine einmalige Band. Rob Stoners Bass, Scarlet Riveras spartanisch-spanisch-mexikanische Geige, dazu das singuläre Ereignis, zuhören zu dürfen, wie Emmylou Harris auf einer Dylan-Platte kontra gibt….usw.  Man höre die Studioversionen und ihre bis heute äußerst raren Live-Versionen und versteht, was mit „Blood On The Tracks“ gemeint war.
Und was mit „Time Out Of Mind“ 1997 eine sensationelle Rückkehr zur Hochform einleitete, die bis heute mit kleinen Abstrichen anhält. Wer nur ab 1997 Liveaufnahmen von Bob Dylan sammelt, hat bis an sein Lebensende damit zu tun, nur einen Bruchteil davon zu hören…

Zurück zum Ausgangspunkt.
Konträr zu all dieser seltsamen Pferdediebe-Mystik von „John Wesley Harding“ – das Gesangbuch der Mutter des Farmers stehlen und dann dessen schöne Tochter entführen und mit ihr wundervolle Dummheiten anstellen, nur um am nächsten Tag deren genauso hübsche Schwester zu verführen, um ihr allerlei kleine Bankräuber-Geheimnisse zu entlocken – ist Dylans altertümlicher Gesang.
Man nennt das die Landstreicher-Romantik-Dekonstruktion.
Um nicht zu sagen Defloration.
Der Gesang ist durchzogen von einer bis dato seltenen Doppeldeutigkeit, aber genauso eindeutigen Klarheit, Milde, Demut und Mitleid. Die Worte sind openhearted und deutlich phrasiert, trotzdem schwebt über jeder neuen Zeile einer jeden neuen Strophe der Geist des Todes und Lebens gleichermaßen. Man weiß nicht, ob alles bloß Finte, Wahrheit oder keines von beiden ist. Wer darin eine Flucht sieht, kann dies gerne tun.  Wer allerdings nicht das geniale Zusammenspiel der drei Musiker und ihren Sinn für Humor sieht und hört, der findet diese Platte wahrscheinlich langweilig. Das präzise Schlagzeugspiel von Kenny Buttrey ist so auf den Punkt, dass Stewart Copeland von Police wie ein Anfänger klingt, und Charlie McCoys abwärtsgewandte, kontrapunktische Basslinien haben in tollen Bands wie Souled American oder Calexico ihre späten Nachfolger gefunden. Von Wilco gibt es eine augenzwinkernde 1:1 Coverversion des Titelstücks. Von dem schier unüberschaubaren Gesamtwerk eines Will Oldham alias Bonnie Prince Billy sowie Howe Gelb und seinen Giant Sand gibt es eine ganz eigene wunderbare Interpretation all dieser Geschichten und dieses Landes und die hält nun ebenso seit über  20 bzw 25 Jahren an.

Die trancehafte Musikalität von „Visions Of Johanna„, an der sowohl McCoy als auch Buttrey maßgeblichen Anteil hatten, hatte längst ihre neverending-Fortsetzungs-Story erreicht….the country music station plays soft…..oder die goldene Überschwenglichkeit von „One Of Us Must Know„, „I Want You“ und „Stuck Inside Of Mobile With The Memphis Blues Again„, vom Sich-für-immer-fort-Träumen der „Sad Eyed Lady Of The Lowlands“ mal ganz abgesehen…..“Blonde On Blonde„, was für ein Witz, was für eine Verarsche der kalten, herzlosen Andy Warhol-Welt, was für ein Statement…..Robbie Robertson von den Hawks war glaub ich bei „Visions of Johanna“ mit dabei…..was egal ist ob der Schinderei die die 5 von The Band und ihr spindeldürrer Sänger im Winter/Frühjahr 1965 und 1966 zu absolvieren hatten….man hörte es….man sah es….Erschöpfung……die Aufnahmen von damals, Australien, England, the craziest music of all times,  aber das ist eine andere Sache…..dann The Basement Tapes, welche Spielfreude, was für Ideen, was für Diamanten von früher da ausgegraben wurden…..und bis heute nicht veröffentlicht sind….die darauffolgenden Alben von The Band, über die Greil Marcus heute noch nachgrübelt und das zurecht…..alles eine andere Geschichte, eine einzigartige…..

Bob Dylans leuchtende Harp-Splitter – in fast allen Songs von „Harding“ dominant wie selten – sind abwechselnd entweder von beißender Schärfe, melodiöser Grausamkeit oder – wie in „I Pity The Poor Immigrant„- tiefempfundener Liebe.
Manchesmal klingt die Harmonika auch so, als ob ein Farmer einfach einen Sack  Kartoffeln entlädt, just for fun.
Raus aus dem Dreck, rein in den Dreck.
Sein Gitarrenspiel in diesem vielleicht schönsten Song von „John Wesley Harding“ schleppt sich hinter dem Gesang her wie ein Pferd seinem angeschossenen Cowboy. Es ist nicht klar, wer durchkommt, das Pferd oder der Cowboy.

Drifter’s Escape“ explodiert oder vielmehr implodiert in einem triumphierenden Grinsen über diesen Sound.
Bob Dylan spielt auf „Dear Landlord“ ein Piano, welches genauso dunkel und mysteriös wie der Text klingt, und in dem längsten Song „The Ballad of Frankie Lee and Judas Priest“ spielt er mit Wortbedeutungen, Andeutungen, Metaphern wie Mephisto höchstpersönlich, was allerdings nicht zur zutiefst gläubig klingenden Stimme passt. Der Hintergrund des Hintergrundes eines Songs ist eine Landschaft, einzelne Figuren, vorüberziehende Bilder, die genauso gut halluzinatorisch wie absolut wahr sein können.

Genug philosophiert. „I’ll Be Your Baby Tonight“ ist dann allerdings sowas von eindeutig, das hier andere gerne weiter interpretieren mögen. It’s good enough for now.

 

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(1) Von „Blood On The Tracks“ gibt es eine 4CDs umfassende Bootleg-Version, die alle Aufnahmen beider Sessions von 1974 enthält und die Original-Platte neben ihrer ursprünglichen Fassung. Grandios.

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